Eins
Sie hatten seine Hände gefesselt und seine Arme waren schmerzhaft nach oben gereckt. Seine Füße erreichten den Boden kaum. Irgendwo über ihm musste sich ein Haken befinden, an dem er hing. Sie hatten ihn überrascht. Es waren zu viele. Er hatte keine Chance. Sie hatten ihn nach allen Regeln der Kunst fertiggemacht. Bilanz seiner Verletzungen: eine zertrümmerte Kniescheibe, drei gebrochene Rippen, dazu Schnittverletzungen diversester Art, unzählige Prellungen und Schürfwunden. Fühlte er irgendwelche Schmerzen? Nein. Er hatte nur Angst um sie. Sie hatte man an einen Pfahl ihm gegenüber gebunden. Er musste zusehen, wie man sie quälte und schändete. Es zerriss ihm das Herz. Sie schaute ihm flehend in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand. Ihr Leben konnte er nicht retten, er war nur in der Lage, ihre Pein zu beenden.
„Ich werde dich erlösen, meine Blume. Hab keine Angst. Ich verspreche dir, deine Seele wiederzufinden, Freyja.“
Tränen rannen über sein Gesicht. Dann schaute er ihr tief in die Augen. Sein Geist übernahm die Kontrolle über ihren Körper und zwang ihr Herz, stillzustehen. Ihr Herzschlag verlangsamte sich. Der letzte Schlag versiegte. Alles beruhigte sich. Da war kein Gedanke, kein Schmerz, keine Angst. Nur Frieden, Liebe und unermessliche Sehnsucht und danach … Schmerz.
Er hatte sie getötet. Seine Frau. Seine Liebe.
***
Jonathan erwachte schweißgebadet und zitternd. Dieser Albtraum verfolgte ihn. Quälte ihn. Immer und immer wieder. Hatte er geschrien? Geweint? Er wusste es nicht. Er beschloss aufzustehen, an Schlaf war aufgrund des Chaos in seinem Kopf und in seinem Herzen sowieso nicht mehr zu denken. Der Tag versprach, beschissen zu werden.
Im Bad besah er sein Spiegelbild.
„Deine Knochen tun dir weh und du siehst ganz schön alt aus“, sagte er laut zu seinem gespiegelten Gegenüber. Seine leuchtend grünen Augen blitzten schelmisch, die Lachfalten um Augen und Mund vertieften sich und straften damit seine Aussage Lügen.
Der Spiegel zeigte einen über eins neunzig großen, muskulösen Mann. Er fuhr sich durch die Haare. Jegliche Art von Haarstyling war sinnlos bei seinem mittlerweile mit einigen wenigen Silberfäden durchsetzten dunklen, leicht zu langem, welligen Haar.
Der Dreitagebart könnte mal wieder eine Rasur vertragen.
Gedankenverloren berührte er seinen rechten Unterarm und damit den Anfang seines Tattoos. Eine Schlange. Ihr Kopf ruhte auf seinem rechten Unterarm. Ihr Körper schlängelte sich in Windungen seinen muskulösen Oberarm hinauf. Überquerte seine straffe Brust, verschwand auf Höhe seines Herzens und kroch weiter über seinen Rücken. An seiner rechten Seite, zwischen Rippenbogen und Hüftknochen tauchten ihre Windungen wieder auf, um sich lasziv über sein Sixpack in Richtung linker Lende und das linke Bein hinab-zu-schlängeln. Ihr Körper schien aus ineinander gewobenen und geflochtenen Linien und Kreisen zu bestehen. Dazwischen Zeichen, die wie eine vergessene Schrift wirkten. Ein Kunstwerk. Die Damenwelt schmolz dahin, wenn sie das Glück hatte, Jonathan mit nacktem Oberkörper zu sehen.
Jonathan war Arzt. Hirnchirurg. Er galt als einer der weltweit Besten. Sein täglich Brot war die Operation von Menschen, für die er und sein Team am Massachusetts General Hospital in Boston die letzte Hoffnung waren.
Er wohnte außerhalb. Irgendwo im Nirgendwo in einem Waldstück am See. Sein Haus war modern. Viel Glas und Holz auf zwei versetzten Ebenen an das Seeufer gebaut. Ein Steg verband die Terrasse mit der in den See hinausgebauten Hubschrauberlandeplattform. Hubschraubertransfer war in Notfällen sinnvoll, ansonsten der pure Luxus, den Jonathan sehr zu schätzen wusste.
Jonathan sah gut aus und das war ihm durchaus bewusst. Sowohl Frauen als auch Männer drehten sich nach ihm um. Für seinen kleinen Freundes- und Kollegenkreis war er zudem der liebevollste und hilfsbereiteste Mensch, den es auf diesem Planeten gab. Diese Menschen waren ihm heilig. Für sie tat er bedingungslos alles. Menschen außerhalb dieses Kreises mochten von ihm denken, was sie wollten, gern auch, dass er ein reiches, egozentrisches Arschloch sei. Sie wussten ohnehin nichts.
Gar nichts!
Zwei
Sieben Uhr in der Früh. Unter einer kalten Dusche hatte Jonathan seinen Albtraum verscheucht. Mit einer dampfenden Tasse Kaffee, barfuß und nur in Jogginghosen und T-Shirt stellte er sich auf seine Holzterrasse und schaute auf das stille Wasser des Sees vor ihm. Es war noch dunkel. Kein Stern war zu sehen. Ein leichter Wind kam auf und die ersten winzigen Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Sein Gefühl sagte ihm, dass sich dieser leichte Schneefall im Laufe des Tages zu einem handfesten Schneesturm ausweiten würde. Die Luft roch danach. Der Wetterdienst hatte allerdings nichts dergleichen vorhergesagt.
Doch seine Sinne täuschten ihn selten.
Er hatte frei und freute sich auf zwei ruhige Tage. Nur er, mit sich, dem Kaminfeuer und einem guten Rotwein. Seine Füße erinnerten ihn daran, dass es Winter war.
„Du verweichlichst, Jonathan“, schmunzelte er über sich selbst und ging wieder hinein.
***
Es klingelte an der Tür. Ungewöhnlich. So früh!